Herausforderungen und Trends in Handel und Vertrieb: Experteninterview im Mineralbrunnen 05/2021:
Digitalisierung und Nachhaltigkeit sind die anhaltenden Megatrends unserer Zeit. Sie verändern Handelsprozesse und Geschäftsmodelle sowie branchenübergreifend die Art und Weise des Wirtschaftens – auch in der Getränkebranche stehen die Topthemen im Fokus. Die Corona-Pandemie und die Phasen des Lockdowns haben sich merklich auf das Konsumverhalten von Verbraucherinnen und Verbrauchern ausgewirkt. Nach einer aktuellen Erhebung des Kölner Instituts für Handelsforschung (IFH Köln) haben sich rund ein Drittel der Befragten an das Onlineshopping gewöhnt und wollen auch in Zukunft nicht mehr so oft stationär einkaufen. In der jüngeren Generation der 18- bis 29-Jährigen zeigt sich der Trend zum Einkauf im Internet deutlich: Knapp die Hälfte werden auch zukünftig eher online bestellen. Vor diesem Hintergrund ist es nicht verwunderlich, dass auch Getränke-Lieferdienste wie Flaschenpost, Durst.de oder Gorillas Marktanteile gewonnen haben. Laut Mitteldeutscher Markenstudie 2021 hat knapp jeder Vierte in Deutschland schon mal natürliches Mineralwasser online bestellt.
Über die Herausforderungen des Handels und Vertriebs in der Getränkehandels- und Mineralbrunnenbranche hat sich DER MINERALBRUNNEN mit Expertinnen und Experten aus der Branche unterhalten. Im Interview stehen Denise Kaufmann, Geschäftsführung Marketing & Vertrieb der Winkels Getränke Logistik GmbH & Co. Holding KG, Gaby Gaßmann, Geschäftsführerin des MAGNUS Mineralbrunnen, Dirk Reinsberg, geschäftsführender Vorstand des Bundesverbands des Deutschen Getränkefachgroßhandels, Jürgen Siebigteroth, Geschäftsführer der Fako-M Getränke GmbH & Co. KG und Andreas Vogel, Vorstand des Verbands des Deutschen Getränke-Einzelhandels (VDGE).
Wo sehen Sie derzeit die größten Herausforderungen für die Getränkebranche im Bereich Handel und Vertrieb generell und insbesondere auf Mineralwasser bezogen? Welche zukünftigen Entwicklungen zeichnen sich ab?
Kaufmann: Der Markt für Mineralwasser wird von Jahr zu Jahr kleiner, und auch wenn Mineralwasser nach wie vor bei vielen hochgeschätzt ist, wird sich diese Entwicklung noch fortsetzen. Zusätzlich erleben wir einen hohen Preisdruck von Seiten des Handels, bei jedoch steigenden Kosten, z. B. durch fehlende Transportkapazitäten, wachsende Sortimente und Rohstoffknappheit (Beispiel CO2). Es wird in Zukunft darauf ankommen, auf die richtigen Innovationen und Markenwerte zu setzen, um den Verbraucher zu begeistern und damit die Markenstärke zu haben, den Handelspartnern ein attraktives Produkt zu bieten, an welchem alle Beteiligten Spaß haben.
Gaßmann: Eine grundsätzliche Herausforderung – und gleichzeitig Verpflichtung – ist die stetige Verbesserung unseres nachhaltigen Handelns. Nur wenn wir unsere Hausaufgaben machen, ist es legitim, dass wir uns auch offensiv mit vermeintlichen Wettbewerbern auseinandersetzen – und aus der sicheren Position heraus auch deren vorgeschobene Argumente aktiv hinterfragen. Es ist zwingend notwendig, die Aufklärung zum Thema „Leitungswasser“ näher an die Verbraucher heranzutragen, all die Probleme, die in Leitungen, im Wasser sowie der Versorgungssicherheit stecken, offenzulegen. Hier müssen wir auch die Politik hinter unseren Positionen vereinen.
Reinsberg: Die großen Themen der Zeit sind Digitalisierung und Nachhaltigkeit. Alle Unternehmen sind aufgerufen, ihre Geschäftsmodelle daraufhin zu überprüfen. Die Ziele der EU zur Senkung der CO2-Emissionen und auch die Ansprüche der Kunden bei nachhaltigem Wirtschaften erfordern von Industrie und Handel klare Strategien für die Zukunft. Auf den ersten Blick mögen Digitalisierung und Nachhaltigkeit gar nicht viel miteinander zu tun haben, doch das Gegenteil ist der Fall: Von der Herstellung von Getränken über die Stromversorgung, die Logistikleistung der Verbringung bis hin zur Vermarktung über den Groß- und Einzelhandel können digitale Technologien dazu beitragen, Prozesse einfacher und effizienter zu gestalten. Dabei sind jedoch Insellösungen zur Selbstoptimierung, wie wir sie nicht selten in logistischen Prozessen auch in der Getränkelogistik wiederfinden, in jedem Fall zu vermeiden. Der Schlüssel zum Erfolg liegt auch hier – wie so oft – im gemeinsamen Handeln.
Siebigteroth: Die größte Herausforderung ist aktuell die verlässliche Warenversorgung und vor allem die Rückführung. Es gibt immer wieder neue, spannende Marketingideen und Konzepte wie neue Gebinde oder individuelle Flaschen, aber in der Umsetzung hapert es bzw. wir können dies nicht so für den Kunden umsetzen. Seien es eben die Lieferschwierigkeiten oder Probleme in der Rücknahme, beim Leergut. Speziell beim Mineralwasser geht die Entwicklung wieder hin zu Glasflaschen. Hier gibt es aktuell nur verstärkt Rohstoff-Engpässe, und bereits angebotene Waren können gar nicht geliefert werden. Bei den Kunden ist die Nachfrage nach Glasflaschen, der Blick auf Nachhaltigkeit erkennbar. Zudem gewinnt das Thema Regionalität auch in unserem Bereich wieder stark an Bedeutung – was durch die Corona-Krise noch verstärkt wurde.
Vogel: Angesichts des unverändert harten Preiswettbewerbs im LEH- und Discountbereich steht auch der Getränkeeinzelhandel weiter unter Druck, wodurch die Konsolidierung der letzten Jahre unverändert weitergehen dürfte. Zu beobachten ist hier allerdings, dass dies vor allem die unprofilierten, nicht-filialisierten Getränkefachmärkte betrifft, während sich die sehr professionell geführten filialisierten Strukturen überdurchschnittlich gut entwickeln. Dabei profitieren unsere in ihrem lokalen Umfeld – im wahrsten Sinne des Wortes – „beheimateten“ und damit fest verankerten Getränkefachmarkt-Spezialisten nicht erst seit der Pandemie vom Zeitgeist, sprich den zunehmenden Wünschen der Verbraucher nach regionalen, nachhaltigen Produkten und nach einer breiten Sortimentsauswahl.
Wie gehen der Getränkehandel und die Vertriebsseite der Mineralbrunnen konkret mit den beschriebenen Anforderungen um? Welche Lösungen gibt es aus Ihrer Sicht?
Siebigteroth: Aus Sicht des Getränkefachhandels habe ich eine eindeutige Meinung: Hier müssen Lösungen her. Hier sind wir auf unsere Industriepartner angewiesen. Wir können natürlich nur mit den Produkten arbeiten, die uns auch zur Verfügung stehen.
Kaufmann: Wir setzen auf Digitalisierung. In diesem und im letzten Jahr haben wir SAP als einheitliches ERP-System gruppenweit eingeführt. Damit können wir unsere Prozesse vollintegriert betrachten und die benötigte Komplexität abbilden. Des Weiteren gilt es unsere Kunden davon zu überzeugen, dass Maßnahmen, die die Effizienz in unserer Logistik steigern, auch für sie Vorteile bringen. Weniger Liefertage, Mindestbestellmengen und weniger Gebindevielfalt garantieren eine bessere Performance. Beim Endverbraucher räumen wir Vorurteile gegenüber Flaschenwasser mit Nachhaltigkeit aus.
Reinsberg: Die Genossenschaft Deutscher Brunnen hat mit dem Ziel, bis 2030 ihre Pools klimaneutral zu stellen, ein klares Statement abgegeben. Viele Mineralbrunnenbetriebe arbeiten ebenfalls daran bzw. sind bereits klimaneutral, gleiches gilt für den GFGH. Für den Handel ist die Klimaneutralität der Lkw-Flotte die größte Herausforderung, daran wird im Rahmen des Möglichen gearbeitet. Kurze und optimierte Transportwege zu regionalen Lieferanten helfen dabei. Ferner müssen zukünftig noch mehr Dachflächen von Märkten und Lagern dafür genutzt werden, sauberen und umweltfreundlichen Solarstrom zu produzieren. Damit kann der CO2- Ausstoß kompensiert, der eigene Energieverbrauch gedeckt und sauberer Strom an Kunden, z. B. über Ladesäulen, günstig abgegeben werden.
Gaßmann: Wir betreiben immer mehr Aufklärung bei unseren Partnern im Handel und speziell in der Gastronomie. Die zu diesem Thema bestehende Kooperation mit dem Getränke- Fachgroßhandel sollte unbedingt ausgebaut werden. Darüber hinaus sind die Qualität unserer Angebote, insbesondere aber natürlich die Nachhaltigkeit und die Regionalität die richtigen Argumente zu unseren Gunsten.
Vogel: Eine weitere Herausforderung speziell für den Getränke-Einzelhandel besteht in der erfolgreichen Ansprache jüngerer Zielgruppen. Auch diesem Thema haben wir uns gestellt und hierzu zunächst eine Studie zum Markenstatus der Getränkefachmärkte in Auftrag gegeben. Auf Basis der Studienergebnisse wurde dann kürzlich ein erster Strategie-Workshop mit interessierten Mitgliedsunternehmen durchgeführt. Ziel war es herauszuarbeiten, mit welchen Inhalten und über welche Kanäle die sogenannten Generationen Y und Z am besten angesprochen werden können. Der gesamte Prozess war sehr interessant und impulsgebend und es wird sicherlich nicht der letzte Workshop dieser Art gewesen sein.
Mit Corona hat sich der Trend zur Digitalisierung weiter beschleunigt und Lieferdienste wie z. B. Gorillas oder Flaschenpost haben Marktanteile gewonnen. Welchen Einfluss hat das auf die Getränkebranche?
Gaßmann: Grundsätzlich gab es diesen Vertriebsweg für Getränke ja schon länger. Ich denke, wer in der Vergangenheit seine Hausaufgaben gemacht hat, kommt auch mit dieser Entwicklung gut zurecht.
Reinsberg: Wir erleben in vielen Bereichen des täglichen Lebens und Handels, dass sich das Verhalten der Kunden nachhaltig verändert. Das jahrzehntelang gelebte Prinzip, dass Verbraucher zum Produkt kommen, bröckelt merklich. Konsum bedingt immer mehr, dass das Produkt zur Kundin/zum Kunden kommt, und das sehen wir auch zunehmend im Lebensmittelhandel und Out-of-Home-Markt. Auf diese sich verändernde Form der Vermarktung gilt es sich einzustellen und neben der klassischen Vermarktung neue Angebote zu formulieren. Das ist neu, aufwendig und in der Startphase sicherlich nicht immer profitabel.
Siebigteroth: Natürlich ist das auch ein Thema für uns. Durch Corona kamen viele Faktoren zusammen, die das Liefergeschäft angetrieben haben. Daher haben auch wir unseren Getränkelieferservice FAKO BRINGTS weiter erfolgreich ausgebaut. Der Trend zu Delivery-Diensten wird sicher auch weiterhin fortbestehen. Hier gilt es vor allem in Service und Kundennähe zu punkten.
Kaufmann: Wir sind bereits mit unseren Marken bei einigen der neuen Lieferdienstkonzepte vertreten. Bei Gorillas z. B. werden aber in erster Linie Einzelflaschen bestellt. Das Lieferkonzept per Fahrrad und Rucksack ermöglicht auch gar keine Kistenware. Ein Bestellverhalten zur Deckung des generellen Bedarfs ist eher bei Anbietern wie Flaschenpost, Durst etc. zu erwarten. Allerdings fehlt hier generell noch die Flächendeckung. Es ist möglich, dass mit Ende der Pandemie die Bestellungen per Lieferdienst wieder etwas zurückgehen. Dennoch hat das Thema Home Delivery unserer Meinung nach Potenzial. Hier gibt es Raum für Konzepte – Getränkefachmärkte könnten sich mit digitaler Unterstützung neu positionieren, gerade auch im außerstädtischen Raum. Dies bietet große Chancen für das Produkt Mineralwasser, in Bezug auf Convenience gegenüber Leitungswasser zu punkten.
Vogel: Das Geschäftsmodell ist sicherlich vor allem für jüngere, online-affine Konsumenten sehr interessant, um nun auch Getränke via App bestellen zu können. Da diese Generationen zumindest bis dato in Getränkefachmärkten eher unterrepräsentiert sind, wird es umso wichtiger sein, diese bedeutende Zielgruppe z. B. auch mittels eigener digitaler Angebote und Lieferdienste verstärkt für sich gewinnen zu können. Grundsätzlich sehe ich die modernen, attraktiven (stationären) Standorte unserer VDGE-Mitglieder aber nicht ernsthaft gefährdet, im Gegenteil! Denn dort gibt es etwas, das es bei der Online-Bestellung eben nicht gibt: das Einkaufserlebnis und die persönliche, kompetente Beratung vor Ort!
Welche Trends sehen Sie? Wo geht die Reise hin?
Kaufmann: Gerade die junge Generation Z hat laut Studien eine sehr gute Meinung von Mineralwasser. Es wächst also eine Generation nach, die man für unser Produkt begeistern kann. Es gilt, Konzepte gemeinsam mit dem Handel zu entwickeln, wie man die Bedürfnisse auch dieser Zielgruppe ansprechen kann.
Gaßmann: Wasser – besonders der Wert der trinkbaren Ressourcen – wird als Thema immer wichtiger werden. Hier müssen wir uns klug positionieren – als sichere, vertrauensvolle Anbieter eines uns in die Hand gegebenen Naturproduktes. Ich bin davon überzeugt, dass zukünftig gerade die regionale Herkunft und die Transparenz unserer Angebote noch einmal deutlich an Stellenwert gewinnen.
Reinsberg: Ich gehe davon aus, dass sich die sogenannte Amazonisierung des Konsums in den nächsten Jahren fortsetzen wird. Eine Studie des Handelsforschungsinstituts IfH Köln brachte es auf den Punkt: Amazon dominiert den deutschen Handel. Mit einem Anteil von 46 Prozent am deutschen Online-Handel ist die Plattform für immer mehr Menschen die erste Anlaufstelle beim Einkaufen. Bereits heute beginnen über 50 Prozent der Menschen ihre Suche nach einem Produkt im Netz direkt bei Amazon. Dieser Entwicklung müssen wir als Getränkebranche durch Formulierung attraktiver Dienstleistungsangebote und durch ein gutes Einkaufserlebnis entgegentreten.
Siebigteroth: Es werden die überleben, die sowohl die Warenversorgung als auch die Entsorgung bzw. Rückführung der Gebinde garantieren können. In unserer Branche brauchen wir Verlässlichkeit und Planungssicherheit. Sonst können wir unsere Kunden nicht entsprechend beliefern. Diese Situation ist kein Trend, aber wesentliche Grundlage für eine gute Zusammenarbeit – vor allem in turbulenten Zeiten wie diesen. Wenn wir dies gemeinsam mit der Industrie lösen, werden die Gewinner feststehen.
Vogel: in anhaltender Trend ist sicher das Thema „No bad Food“, sprich der Wunsch nach gesunden, zucker-, alkohol- und kalorienreduzierten Produkten. Auch die Aspekte Nachhaltigkeit und Regionalität werden in Zukunft weiterhin eine große Rolle spielen. Dem Getränke-Einzelhandel mit seinen überwiegend mehrweggeprägten Gebinden und seiner großen Sortimentsbreite spielt das einerseits wunderbar in die Karten, andererseits gibt es auf Fachmarktseite aber noch „Luft nach oben“, was die kommunikative Umsetzung angeht, damit diese Vorteile von den Verbrauchern auch als solche wahrgenommen werden.
Vielen Dank für das Gespräch.